Wein und Wahrheit - Guter Tropfen, schlechte Luft
Die meisten Wein-Blogs im Internet schreiben in einer Sprache, die sich Nichteingeweihten nicht unmittelbar erschließt, ich hatte an dieser Stelle schon ausgiebig darüber gelästert. Wie gut, dass es Leute wie Manfred Klimek gibt. Sein Blog Captain Kork ist beinahe so was wie die Bildzeitung unter den Weinblogs, mit einer plastischen, teilweise deftigen Ausdrucksweise und im poppigen Achtziger-Jahre-Design, dabei nichts für empfindliche Augen, weil ziemlich flashy und mit reichlich Werbung. Allzu ernst würde ich ihn nicht nehmen, er hat aber durchaus Unterhaltungswert.
Klimek kann aber auch seriös. Sein Beitrag auf ZEIT Online diese Woche kommt ohne Umschweife auf den Punkt. Sein Stil lässt keinen Widerspruch zu und wird so manchen Freund ritueller Handlungen rund um den Wein vor den Kopf stoßen. Seine Argumente sind allerdings kaum von der Hand zu weisen. Diesmal geht es um das beliebte Dekantieren.
Wie fast überall gibt es auch unter Weinkennern und solchen, die sich dafür halten - Disclaimer: Der Autor dieser Zeilen hält sich nicht dafür und bezeichnet sich lieber als Weinliebhaber - eine Menge zum Teil sehr unterschiedlich verteiltes Halbwissen. Ein Thema darunter nimmt Klimek gnadenlos aufs Korn: Guter Wein muss dekantiert werden.
Hand aufs Herz: Wer hat sich nicht schon von einem solchen Spektakel beeindrucken lassen? Große Gläser, Kerzenlicht, ein Dekanter mit Respekt einflößenden dreißig Zentimetern Durchmesser und ein Sommelier, der mit wichtig-blasiertem Gesichtsausdruck Dinge wie "Mineralisch ... tanninbetont ... beginnt sich zu öffnen ..." murmelt. Derlei Gebahren bezeichnet Klimek ohne Umschweife als "Brimborium" und "völliger Quatsch". Der vinophile Leser zuckt zusammen und denkt, was ist denn das für einer ...
Dann kommt man zum Testgegenstand: Ein 1995er Ornellaia. Oha! Die Wein-Allgemeinbildung reicht gerade noch, um zu kombinieren: Einer der edelsten italienischen Rotweine der 100-Euro-Klasse. Und dann nicht dekantieren? Manfred Klimek liefert die Begründung postwendend: Reife Rotweine muss man eben nicht dekantieren, weil sie sonst viel zu schnell oxidieren, die kommen trinkfertig aus der Flasche. Und große Gläser sind längst nicht für jede Art Rotwein geeignet, die Riesenpokale eigentlich nur für den fruchtbetonten Burgunder.
Und Klimek legt noch nach: Dekantieren muss man nur Weine, die ihren optimalen Reifezeitpunkt noch nicht erreicht haben, also zu früh geöffnet wurden. Und hier wird es dann doch wieder idealistisch. Denn wer hat schon so viel Übersicht über seinen Weinkeller, dass er alle Weine exakt zum richtigen Zeitpunkt öffnet? Auch ich habe natürlich einen Dekanter im Schrank, und ich habe ihn schon des Öfteren benutzt. Leider verfüge ich nur über sehr begrenzte Lagerkapazitäten und kann meine Rotweine daher nicht beliebig lange aufheben. Erscheint ein Wein doch einmal etwas zu "tanninlastig", sprich er hat Säurespitzen, kann Dekantieren Linderung verschaffen, der Wein schmeckt anschließend runder und nicht mehr so adstringierend.
Man muss es einfach mal ausprobiert haben. Selbstverständlich benötigt man dazu nicht nur einen Dekanter (so etwas gibt's heutzutage in ästhetisch ansprechender Form schon für kleines Geld bei Aldi, sondern auch einen Wein, bei dem man den Unterschied schmeckt. Tanninbetonte mittelalte Bordeaux sind da immer einen Versuch wert. Kaum einen Blumentopf gewinnt man dagegen bei spanischen Crianzas oder Reservas, die meist bereits sehr rund und reif aus der Flasche kommen, und auch bei deutschen Spätburgundern oder Südfranzosen ist oft nicht viel zu holen. Eigentlich bei keinem Wein, der von Robert Parker empfohlen wird, denn diese Weine sind von ihrer Charakteristik meist zwar schwer, aber eben nicht besonders tanninlastig.
Also wer einen Dekanter hat: Bitte nicht wegwerfen, das Ding hat schon seine Berechtigung. Eine Kerze und schöne Gläser kann man natürlich immer hinstellen. Aber letztlich hilft nur eins: Den Wein sorgfältig auswählen, sich ggf. im Fachgeschäft oder beim Winzer beraten lassen und unbedingt vorher probieren. Dann braucht man für den Genuss auch kein Theater.
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